Der Landbote, 19.11.2014
Jean-Paul Brodbeck wuchs mit klassischer Musik auf, wurde dann aber stark und nachhaltig vom Jazzvirus angesteckt. Trotzdem ist die klassische Musik für den Pianisten ein Thema geblieben.
Eines seiner Trio-Alben trägt den Titel «Song of Tschaikowsky» und klingt doch eindeutig nach Jazz. Mit anderen Worten: Jean-Paul Brodbeck zählt zu den Pianisten, denen der Spagat zwischen Affinität für die Klassik und Priorität für die Ästhetik des Jazz ohne Muskelzerrung gelingt – damit steht der 1974 in Basel geborene Wahlzürcher in einer Reihe mit Bill Evans, Herbie Hancock oder Keith Jarrett.
Brodbeck wuchs mit klassischer Musik auf. Mit 14 hörte er «Moanin’» von Art Blakey und den Jazz Messengers mit dem Pianisten Bobby Timmons: Das war die Initialzündung für eine intensive Immersion in improvisierte Groove-Musik, die bis zum heutigen Tag fortgesetzt wird. Dabei interessiert sich Brodbeck nicht nur für sein Umfeld, sondern auch für die Geschichte. So kam er im Quartett des Saxofonisten Johannes Enders in Kontakt mit dem afroamerikanischen Meisterschlagzeuger Billy Hart, von dem er sich im Tourbus gerne Storys von früher erzählen lässt.
Die Aufnahmen, die Brodbeck in seiner Jugend entdeckte, lösen bei ihm zu einem grossen Teil immer noch dasselbe Feeling aus. Gewachsen ist das Verständnis für Details und Zusammenhänge. Brodbeck erinnert sich: «Mit 17 hörte ich ‹E.S.P.› vom Miles Davis Quintet. Ich verstand nicht, was da abging. Und doch war klar für mich: Wow, das ist es!»
Bestseller auf dem Plattenteller
Brodbeck hätte gerne mehr Zeit, um Musik zu hören – wenn er es tut, dann nicht en passant, sondern bewusst und am liebsten ab Vinyl: «Ich habe eine gute Anlage.» Unter seinen Schätzen befindet sich unter anderem eine Sammlung mit allen Aufnahmen, die der Pianist Bill Evans für das Label Riverside gemacht hat – dazu gehören natürlich auch die Alben des legendären Trios mit Scott LaFaro am Bass und Paul Motian am Schlagzeug.
Obwohl er selbst viel im Trio musiziert – zu seinem neuen Trio, mit dem er auch in Winterthur gastiert, gehören die fantastisch-telepathischen Zwillingsbrüder Andreas und Matthias Pichler aus Österreich –, ist er nicht nur auf diese Besetzung fokussiert, ja er hat sogar mehr Soli von Bläsern rausgeschrieben als von Pianisten. Unter seinen absoluten Lieblingsaufnahmen sind auch auf Blue-Note-Alben der Saxofonisten Joe Henderson und Wayne Shorter «Inner Urge» und «Speak No Evil», entstanden beide 1964.
Es begann mit Charlie Parker und Bud Powell
1964 war sowieso ein wunderbares Jahr für den Jazz: Damals nahm John Coltrane «A Love Supreme» auf. Dieses Album drehte sich erst kürzlich auf Brodbecks Plattenteller. Brodbeck wagt einen Vergleich zwischen den Pianisten McCoy Tyner, der mit Coltrane spielte, und Herbie Hancock, der mit Miles Davis spielte: «Hancock ist einer der wenigen modernen Pianisten, der durch die Rhythmik einen neuen Stil schuf. Bei Tyner war es die spezielle Harmonik.»
Das Grundfeuer für die Art, wie man heutzutage Jazz spielt, haben gemäss Brodbeck die Bebop-Pioniere Charlie Parker und Bud Powell entzündet. Und als Urtypus des Jazzkünstlers bezeichnet er den für ihn unantastbaren Thelonious Monk, der in seiner Musik eine Brücke zwischen Modernität und Duke Ellington schlug.
Schwärmen für Brian Blade und Anton Bruckner
Unter den aktiven Jazzmusikern gilt Brodbecks Bewunderung dem Schlagzeuger Brian Blade und dem Gitarristen Kurt Rosenwinkel. Über Blade, der sich an der Seite von Joni Mitchell ebenso wohl zu fühlen scheint wie im Quartett von Wayne Shorter, sagt Brodbeck: «Er bringt jede Musik zum Klingen. Für mich verkörpert er den Zeitgeist im besten Sinne, indem er Musik macht, die nicht durch ein intellektuelles Konzept entwertet wird.»
Als Brodbeck vor ein paar Jahren in New York weilte, entdeckte er den Schlagzeuger Marcus Gilmore. Und ein Konzert der Sängerin Björk wurde zu einem unvergesslichen Erlebnis (unter ihren Platten hat es ihm «Homogenic» am meisten angetan). Ein weiterer von Brodbecks Favoriten aus der Pop-Ecke starb 1974, also in seinem Geburtsjahr: «Nick Drake ist für mich der Schubert des modernen Songs. Man muss aufpassen, dass er einen nicht zu sehr in die Tiefe zieht.»
Dafür geht es mit den Sinfonien von Anton Bruckner himmelwärts: «Das ist für mich Weltallmusik. Mit grosser Demut vor der Tradition hat Bruckner Formen aufgesprengt. Seine Musik mag vordergründig pompös wirken, aber eigentlich ist sie extrem reduziert.»